[Erstveröffentlichung dieses Beitrags: 14.09.2009]
Nachdem ich im November 2008 den ersten Teil der interessanten Kindheitserinnerungen von Oberst Eugeniusz Stefaniak über die deutsche Besatzung seiner Heimatstadt zusammengefasst und veröffentlich hatte, bot sich mehrmals die Gelegenheit, mit Herrn Stefaniak zu telefonieren. Heute möchte ich mein ihm gegebenes und längst überfälliges Versprechen einlösen und auch seine wichtigsten Erlebnisse während der letzten Kriegsmonate (ab Seite 67 seines Buchs „Byłem oficerem politycznym LWP“) Lesern, die kein Polnisch können, zugänglich machen.
Im August 1944 musste, nachdem die Front immer näher gerückt war, jeder Betrieb in Chełmno ein bis zwei Mitarbeiter für die Anlage von Verteidigungsanlagen abstellen. Nach Erinnerung Stefaniaks wurde eine größere Gruppe von Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren nach Zajączkowo gebracht. Der Autor gibt die Lage dieser Ortschaft mit „bei Toruń“ an, aber wahrscheinlich handelt es sich um das doch ein gutes Stück von dieser Großstadt entfernte und rund 35 km südöstlich von Chełmno liegende Zajączkowo in der Gemeinde Chełmża. Die rund 200 Personen übernachteten in einer Scheune, wurden mit Schaufel oder Spitzhacke ausgestattet und dazu gezwungen, 12 Stunden täglich Schützen- und Panzergräben auszuheben.
Die Zwangsarbeiter waren in drei sog. Kommandos eingeteilt, zwei polnische und ein jüdisches, das von jungen Jüdinnen aus Ungarn gebildet wurde. Während der Arbeiten auf den Feldern wurden die polnischen Arbeiter von Wehrmachtssoldaten beaufsichtigt, in ihrer Unterkunft hingegen von einer HJ-Gruppe aus Danzig, die der Autor als sehr aggressiv bezeichnet und die die Polen vor und nach dem langen Arbeitstag schikanierte. Die jüdischen Zwangsarbeiterinnen hingegen wurde von einer Einheit der „SS Galizien“ bewacht, deren Angehörige sich durch brutales Verhalten auszeichneten.
Zwei Ereignisse aus dieser Zeit sind Stefaniak besonders im Gedächtnis haften geblieben. Beim Anblick eines großen Verbands alliierter Flugzeuge, der Zajączkowo in erheblicher Höhe überflog, brach unter den Zwangsarbeitern spontaner Jubel aus, der von den Wehrmachtssoldaten mit Schüssen in die Luft sofort unterbunden wurde. Für die Jugendlichen, die mit dem Ausheben der Gräben befasst war, war dies neben den mittlerweile zu ihnen durchgedrungenen Nachrichten über den Ausbruch des Warschauer Aufstands ein Signal, die Hoffnung nicht aufzugeben und durchzuhalten.
Das zweite Ereignis datiert der Autor auf seinen 16. Geburtstag, also den 8. September 1944. Die polnischen Zwangsarbeiter warteten neben der Scheune, in der sie untergebracht waren, vor einer Feldküche auf die Essensausgabe oder nahmen bereits ihre Mahlzeit ein, als sich eine aus Jüdinnen bestehende Kolonne unter SS-Bewachung näherte. Stefaniak bemerkte kurz geschnittene Haare, staubüberzogene Kleidung und Gesichter sowie deutliche Anzeichen von allgemeiner Schwäche und Erkrankungen bei den Frauen. Unter Schlägen, Beschimpfungen und dem Bellen der die SS-Soldaten begleitenden Schäferhunde wurden sie vorangetrieben. Als einige Jüdinnen an Stefaniak, der seine Essensration bereits empfangen hatte, vorbeikamen und um Essen baten, sprang dieser vor und legte einer Frau einige Kartoffeln in die Hand. Seine Hilfe musste er zunächst mit einer Reihe von Schlägen, die ihm ein herannahender SS-Mann verabreichte, büßen. Sodann tauchte der HJ-Lagerführer auf und verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Es folgten weitere Schläge, Tritte und Beschimpfungen. Stefaniak verlor das Bewusstsein und erwachte erst wieder in einem unterirdischen Eiskeller, in dem er zur Strafe mehrere Tage verbringen musste. Durch die Kälte erkrankte er, bekam Fieber und Geschwüre und wurde schließlich seiner Mutter und Schwester überlassen, die ihn um den 17. September nach Chełmno brachten. Andere Zwangsarbeiter wurden noch bis zum November 1944 festgehalten, um Gräben zu bauen, die letztendlich ihren militärischen Zweck überhaupt nicht erfüllten.
Da sein bisheriger Arbeitgeber Wincenty Szalwicki wegen der Erkrankung nicht mehr an seiner Beschäftigung interessiert war, wurde Stefaniak entlassen und erhielt sodann die Anweisung, ab dem 1. Oktober 1944 in der Autowerkstatt des Postamts in Chełmno zu arbeiten. Diese Tätigkeit übte er bis zur Einnahme der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 aus.
Stefaniak erinnert sich daran, dass mit näher rückendem Kriegsende der Gebrauch der polnischen Sprache in der Öffentlichkeit immer seltener auf Repressionen stieß. Bisher war es üblich, dass ihn Polizisten oder Volksdeutsche schlugen, wenn er auf der Straße Polnisch gesprochen hatte.
Der letzte Kriegswinter war für die Familie Stefaniak noch einmal sehr hart. Dem Autor in Erinnerung geblieben sind das ständig zugefrorene Fenster der winzigen Wohnung, der ständige Hunger, aber auch ein gestärkter familiärer Zusammenhalt und gewisser Optimismus angesichts der zunehmenden militärischen Niederlagen der deutschen Besatzungsmacht.
Der damals 16-jährige Stefaniak verfolgte mit Freude das Einrücken der Roten Armee in Chełmno. Der Marktplatz in der Altstadt wurde als Standplatz für Panzer und andere Fahrzeuge genutzt. Die Stadt war voller Soldaten. Überall vernahm man russische Rufe. Lagerfeuer sorgten in diesem außerordentlich strengen Winter für ein wenig Wärme. In den Straßen sah man rot-weiße Fahnen, amtliche Bekanntmachungen in polnischer Sprache. Stefaniak sah zum ersten Mal in seinem Leben Portraits von Stalin. Neben sowjetischen Soldaten patrouillierten auch polnische Polizisten durch die Stadt.
Trotz der relativen Stabilität lag Chełmno noch immer im Frontgebiet. Stefaniak vermutet, dass die Rote Armee wahrscheinlich deshalb im Februar bei scharfem Frost hartgefrorene Leichen sowjetischer Soldaten in einer kleinen Grünanlage an der ul. Parkowa und ul. Grudziadzka in großer Eile bestattete.
Nach der Erinnerung des Autors wurde Anfang Februar 1945 der 1913 geborene Józef Trębicki, der vor dem Krieg Mitinhaber eines Weidenruten verarbeitenden Betriebs in Chełmno gewesen war, zum Bürgermeister ernannt. Er amtierte im historischen Rathaus auf dem Markt. Eugeniusz Stefaniak wurde in seinem Büro als für ehemaliges deutsches Vermögen zuständiger Referent eingestellt. Ihm unterstand ein großes Lager an der ul. Biskupia, in das Möbel aus von Deutschen verlassenen Wohnungen gebracht wurden. Dort wurden sie auf Anweisung des Bürgermeisters konkreten Einwohnern zugeteilt. Stefaniak gehörte trotz seines jungen Alters auch der Freiwilligen Bürgermiliz (Ochotnicza Milicja Obywatelska) an. Stefaniaks Mutter hielt ihn davon ab, die bis 1939 von der Familie besessene Wohnung wieder in Beschlag zu nehmen, was ihm wegen seiner Position sicher möglich gewesen wäre. Stattdessen ließ er sich vom Bürgermeister eine freie Zweizimmerwohnung mit Küche an der ul. Świętego Ducha zuweisen. Seine Familie zog dort Ende Februar oder Anfang März ein.
Obwohl die Stadt Chełmno am 27. Januar 1945 von der Roten Armee eingenommen wurde, bedeutete dieser Tag noch kein Ende der Kampfhandlungen. Stefaniak beschreibt nämlich eine Begebenheit, an der er persönlich als Angehöriger der Freiwilligen Bürgermiliz beteiligt war: Mitte Februar versuchten Gruppen versprengter Wehrmachtssoldaten aus dem Raum Toruń, bei Chełmno über die Weichsel zu setzen und sich weiter zur noch von den Deutschen kontrollierten Ostseeküste bei Danzig (Gdańsk) durchzuschlagen. Eine Sowjetoffizierin im Rang eines Hauptmanns, die das südlich der Altstadt von Chełmno gelegene und mit verletzten Rotarmisten voll belegte Krankenhaus leitete, organisierte die Verteidigungsmaßnahmen. Stefaniak nahm in der Nähe des Krankenhauses und an der ul. Toruńska an dem vierstündigen Feuergefecht mit den deutschen Soldaten teil, die schließlich abgewehrt wurden und sich einen Weg zur Weichsel abseits der Stadt suchen mussten. Der Autor beobachtete, wie kleine und größere Wehrmachtseinheiten versuchten, südlich von Chełmno die zugefrorene Weichsel in Richtung Gruczno zu überqueren. Die sowjetische Artillerie beschoss stundenlang die deutschen Soldaten vom hoch über dem Weichseltal gelegenen Kasernengelände in Chełmno aus und zwang diese zu einer verzweifelten Flucht. Auch in den nächsten Tagen wurden noch Gruppen deutscher Soldaten aufgegriffen, die aus dem belagerten Grudziądz entkommen waren.
Das Verhältnis zu den neuen sowjetischen Machthabern gestaltete sich schwierig. Durch die Germanisierungspolitik waren viele polnische Einwohner „eingedeutscht“ und mit entsprechenden Ausweisen ausgestattet worden. Außerdem hatten viele Männer in der deutschen Wehrmacht gedient.
Sie wussten nicht, wie sie uns erkennen sollten: Wer ist Pole und wer ist Deutscher? Wen haben sie befreit und wen besiegt? (…) Diese Frage war wesentlich, weil die deutsche Bevölkerung keinerlei rechtlichen Schutz genoss. Es mussten Wochen vergehen, bevor diese komplizierten Verhältnisse und die Wahrheit über die Besatzungszeit auch das Bewusstsein nicht nur der Kommandantur der sowjetischen Armee, sondern auch der neuen polnischen Behörden erreichten.
Während Stefaniak die ersten Einheiten der Roten Armee, die an der Front gekämpft und die Stadt befreit hatten, positiv in Erinnerung behalten hat, genossen die nachrückenden Soldaten wegen vieler Raube und Vergewaltigungen einen schlechten Ruf. Es kam nun auch zu Verhaftungen von Deutschen sowie von Personen, die als Kollaborateure galten. Später wurden Razzien durchgeführt und Männer, wohl unabhängig von ihrer Nationalität, verpflichtet, beim Bau einer Holzbrücke über die Weichsel mitzuhelfen, der innerhalb von drei Wochen abgeschlossen wurde. Stefaniak erinnert sich, dass dieser Zwangsdienst unterschiedlich bewertet wurde. Manche beklagten diesen als Repressionen, die meisten aber sollen die Meinung vertreten haben, dass unter der Führung der Sowjets innerhalb kurzer Zeit etwas geschaffen worden ist, über das man in der Vorkriegszeit 20 Jahre lang nur debattiert habe. Diesen Symbolcharakter der Brücke als Erfolg des sich nun etablierenden politisch-gesellschaftlichen Systems nicht schmälern konnte auch die Tatsache, dass viele zwangsverpflichtete Männer nicht nach Hause zurückkehrten, sondern in Lager in die UdSSR verschleppt wurden.
Den ersten Teil der Zusammenfassung finden Sie unter dem Titel NS-Zeit in Chełmno – Kindheitserinnerungen von Eugeniusz Stefaniak.