[Erstveröffentlichung dieses Beitrags: 10.11.2008]
Vor zwei Monaten erhielt ich einen Anruf eines älteren Herren, der auf meinen 1997 verfassten Aufsatz über die NS-Zeit in Chełmno aufmerksam geworden war und mir während des Telefongesprächs sein im vergangenen Jahr beim Verlag Adam Marszałek in Toruń herausgegebenes Buch Byłem oficerem politycznym LWP empfahl. Dieser Titel, der ins Deutsche übersetzt Ich war Politoffizier der Polnischen Volksarmee bedeutet, lässt zunächst keinen Zusammenhang mit Chełmno vermuten. Umso dankbarer bin ich dem Verfasser, Herrn Eugeniusz Stefaniak, dass er mich auf sein Werk hingewiesen hat, und nehme gerne seine Anregung auf, an dieser Stelle den ersten Teil seiner Darstellungen zusammenfassend wiederzugeben.
Oberst Eugeniusz Stefaniak, 1928 in Chełmno geboren, setzt sich nämlich nicht nur selbstkritisch und offen mit seinem persönlichen Werdegang als Offizier in der Polnischen Volksarmee bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1980 auseinander, sondern berichtet auch über seine alles andere als sorgenfreie Kindheit, die er in seiner Heimatstadt verbrachte. Besonders interessant sind seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundene Besatzung der Stadt durch das nationalsozialistisch regierte Deutschland. Seine Schilderungen zeigen eindrücklich die Schwierigkeiten und Gefahren, denen seine schon vor dem Krieg in ärmlichen Verhältnissen lebende Familie ausgesetzt war.
Stefaniak erinnert sich daran, dass im Sommer 1939 in der Schule, auf der Straße und im Kreis der Familie über die Gefahr eines Krieges gegen Deutschland gesprochen wurde. Der damals 11-jährige Schüler war davon überzeugt, dass die Soldaten der örtlichen Garnison, die von ihm inständig verehrt wurden, im Fall der Fälle den Feind zurückschlagen würden. Ende August wurde sein 39-jähriger Vater zur Armee einberufen, obwohl er aus dem Ersten Weltkrieg als Kriegsbeschädigter zurückgekommen war und eine Frau und sechs Kinder zu versorgen hatte.
Erstes militärisches Anzeichen für den Kriegsausbruch war für Eugeniusz Stefaniak ein Angriff drei deutscher Bomber am 1. September, die die Weichselfähre bei Chełmno und einen zwischen Stadt und Weichsel liegenden Wald angriffen, in dem polnische Einheiten lagen. Am nächsten Tag schleppte sich ein schwer verletzter polnischer Soldat auf den Hof des von den Stefaniaks bewohnten Hauses, das an der von der Weichselfähre in die Altstadt führenden Verbindungsstraße (ul. Kamionka) stand. Nachmittags tauchten über der Nachbarstadt Świecie blaue Bomber auf, die zunächst für britische Flugzeuge gehalten wurden. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese deutschen Maschinen vom Typ Heinkel alle umliegenden Weichselübergänge bombardierten. Auch auf den nahe gelegenen Wald und den Garten des Hauses, in dem die Familie Stefaniak lebte, fielen Bomben. Ein Nachbar der Stefaniaks kam dabei ums Leben.
Die nächste Erinnerung des Autors betrifft den Abend des 5. September, als eine erste Kolonne gepanzerter Wehrmachtsfahrzeuge auf einer Pontonbrücke die Weichsel überquerte. Drei Tage und drei Nächte lang, so Stefaniak, seien im Haus die von Fahrzeugkolonnen verursachten Erschütterungen zu spüren gewesen. Er beobachtete die feindlichen Panzer, Artillerie und motorisierte Infanterie, die Chełmno durchquerte und sorgte sich um das Schicksal seines Vaters, der ins rund 40 km gelegene Toruń einberufen worden war. Später zeigte sich, dass der Vater während der Schlacht an der Bzura in deutsche Gefangenschaft geraten war und im Spätherbst 1941 nach Hause zurückkehren konnte.
Die ersten Besatzungsmonate charakterisiert Eugeniusz Stefaniak mit folgenden Worten:
Wie auf ein Trompetensignal begannen sich die örtlichen Deutschen zu aktivieren. In ihrer Siegeseuphorie gingen sie, militärischen Schutzes gewiss, sofort zu einer Welle barbarischer Verhaftungen und Ermordungen von Polen über. Nicht die Wehrmacht, nicht die Polizei und nicht die Gestapo (diese nur sporadisch), sondern einheimische Deutsche, die einstigen Nachbarn der Polen, im sog. Selbstschutz organisiert, brachten Schande über sich durch einen Völkermord im Culmer Land. (…) Es ist unfassbar, woher der übermäßige Hass der einheimischen Deutschen kam. Schließlich wurden nicht nur Männer, Väter und Ehegatten, sondern oft auch Ehefrauen und Kinder ermordet. Sicherlich hörte man auch von guten Deutschen, die sich anständig gegenüber Polen verhielten. Jedoch wurde ihre Güte und die greifbaren Belege dafür vom enormen Maß der Verbrechen der Selbstschutz-Gruppen gedämpft oder besser gesagt erstickt.
Im Gedächtnis haften geblieben ist Eugeniusz Stefaniak aus dieser Anfangszeit der NS-Herrschaft in der nun amtlich Kulm an der Weichsel heißenden Stadt die Inhaftierung von 300 Personen in der Franziskanerkirche, die wegen ihrer Nutzung durch das benachbarte Gymnasium auch Gymnasialkirche genannt wurde. Lehrer, Beamte, Handwerker, Ärzte, Pfarrer, Funktionäre polnischer Verbände, aber vor allem vermögende Landwirte, darunter Stefaniaks Onkel Roman aus dem im Landkreis Chełmno gelegenen Dorf Strucfon, wurden in dem großen Gotteshaus festgehalten. Gemeinsam mit seiner Tante Felicja harrte der junge Eugeniusz vor der Kirche aus und wartete auf Gelegenheiten, seinem Onkel kleine Pakete mit Lebensmitteln und warme Kleidung zukommen zu lassen. Die Inhaftierten wurden verhört und geschlagen, viele von ihnen anschließend an einer der Massenhinrichtungsstätten in der Umgebung von Chełmno ermordet, andere vorübergehend freigelassen. Roman Stefaniak konnte nach seiner Freilassung fliehen und sich im Generalgouvernement versteckt halten. Dort schloss er sich einer Widerstandsorganisation an.
Besonderes Unbehagen bereitete Eugeniusz Stefaniak in dieser Zeit das seiner Erinnerung nach selbstsichere Auftreten von Deutschen, die die nicht weit entfernte evangelische Kirche an der ul. Wodna besuchten. Er sah einen Widerspruch darin, dass sich Menschen einerseits durch den Kirchgang zum christlichen Glauben bekannten und andererseits schweigend das in einem anderen Gotteshaus der Stadt stattfindende Unrecht hinnahmen. Stefaniak erinnert sich daran, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt von der Entscheidungsgewalt einheimischer Deutscher über Tod oder Leben überzeugt gewesen ist. Seine Erinnerung an die gut 70 Jahre zurückliegenden Ereignisse zeigt, wie präzise man im Detail sein muss, um nicht unschuldige Personen als Verbrecher erscheinen zu lassen.
So habe es, wie Stefaniak in seinem Buch ausführt, in Chełmno zwei Männer mit Nachnamen Kalweit gegeben, einen sich anständig verhaltenden Gärtner dieses Namens, und einen gewissen Hugo Kalweit, der Mitglied des Selbstschutzes war und „der Buckelige“ genannt wurde. Als weiteren ihm bekannten Selbstschutz-Angehörigen erwähnt Stefaniak Anton Resmer aus Lisewo. Stefaniak erinnert sich an eine Aufsehen erregende Aktion Hugo Kalweits im Februar oder März 1940, als dieser während eines Gottesdienstes hoch zu Pferde in die katholische Marienkirche ritt und so offensichtlich seine Stellung als vermeintlicher Herrenmensch demonstrieren wollte.
Einprägsamer als Aufsehen erregende Ereignisse waren für den Autor jedoch die täglichen Sorgen um Nahrungsmittel und die Gesundheit der Familie. Wenige Monate nach seiner Entlassung aus deutscher Kriegsgefangenschaft starb im März 1942 der Vater, so dass es nun vor allem der Mutter oblag, ihre sechs Kinder im Alter von vier bis sechzehn Jahren zu versorgen. Eine Unterstützung wurde ihr im Rathaus mit hämischem Kommentar verweigert. Die rechtliche Lage der Stefaniaks war von Beginn der deutschen Besatzung an unsicher, denn die Eltern stammten aus dem Raum Lublin, dem früheren Kongresspolen. Daher war die Familie seit dem Winter 1939/40 darauf eingestellt, ins Generalgouvernement ausgesiedelt zu werden. Sie stand auf einer entsprechenden Liste. Zweimal erhielt sie die Anordnung, sofort ihre Wohnung zu verlassen und sich zu einem Sammelpunkt zu begeben. Zweimal wurde diese Entscheidung in letzter Minute rückgängig gemacht, zum einen wegen der Kriegsgefangenschaft des Vaters und der großen Kinderzahl. So geschah es, dass die Stefaniaks „nur“ in eine schlechtere Wohnung umziehen mussten. Zu einer Vertreibung aus Chełmno kam es nicht mehr, jedoch blieb durch den Status von zur Aussiedlung bestimmten Personen Eugeniusz Stefaniak bis zum Ende des Krieges der Schulbesuch verwehrt.
Der Autor erinnert sich aber nicht nur an das Unrecht des NS-Regimes und seiner Vertreter, sondern auch Schikanen, die die Familie von anderen Polen erlitt. So habe ein ehemaliger Nachbar ihnen rechtswidrig ein landwirtschaftlich genutztes Grundstück und dadurch die Möglichkeit, Vorräte für den Winter anzulegen, genommen, schreibt Stefaniak.
Schmerzlich in Erinnerung behalten hat der Verfasser ebenso, dass Kinder die Fensterscheiben der Wohnung mit Steinen eingeworfen und ihre Aktionen mit Rufen wie „Fort mit den Russen!“ oder „Fort mit den Kongresspolen!“ kommentiert haben. Stefaniak schreibt:
Mit Bitterkeit denke ich daran zurück, dass uns die Deutschen im Namen ihrer „Ordnung“ manchmal vor Polen aus Pommerellen verteidigt haben. Deshalb möchte ich nicht übermäßig den polnischen Patriotismus während der Kriegsjahre idealisieren. Es gibt nämlich auch dunkle und beschämende Seiten.
Die Ursachen für diese gar feindliche Einstellung gegenüber Polen aus dem ehemaligen russischen Teilungsgebiet, dem sog. Kongresspolen, seitens in Chełmno schon seit langem ansässigen Landsleuten sieht Stefaniak heute in einer übermäßigen Idealisierung der „guten alten Zeit unter Kaiser Wilhelm“, als es nicht die wirtschaftlichen Probleme mit hoher Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Armut gab, mit denen der junge polnische Staat nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit kämpfen musste. So könnten ein Teil der alteingesessenen Einwohner, auch solche nichtdeutscher Abstammung, in den ersten Kriegsjahren, die preußische Ära verklärend, wieder von wirtschaftlich besseren Zeiten geträumt und versucht haben, sich von den „russischen Eindringlingen“ demonstrativ abzugrenzen. Diese Haltung änderte sich nach Stefaniaks Erinnerung jedoch ab Ende 1942.
Stefaniak überrascht in diesem Zusammenhang auch mit einer weiteren Beobachtung: Er lobt ausdrücklich den von der Besatzungsmacht eingesetzten Verwaltungschef Buchwald als „wahrhaften Bürgermeister“, der jede Woche mit einer Kutsche alle Straßen und Winkel der Stadt abgefahren habe, um sodann eventuelle Missstände und Mängel sofort beheben zu lassen. Stefaniak schreibt:
Dadurch war die Stadt gepflegt und sauber. Kaum zu glauben, dass in dieser Zeit ein vernichtender Krieg tobte.
Je länger Krieg und Besatzung dauerten, desto kritischer wurde die Lage der Familie Stefaniak. Anfangs beschaffte sich Stefaniaks Mutter Stanisława Nahrungsmittel für ihre Kinder, indem sie in der Stadt Fische erwarb und diese in umliegenden Dörfern gegen Brot, Mehl, Eier und andere Produkte eintauschte. Sie musste weite Strecken zu Fuß zurücklegen, um mit ihrem Tauschhandel Erfolg zu haben. Im Winter suchte sie oft an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort auf dem Land eine Übernachtungsmöglichkeit, weil ihr die Kraft fehlte, noch am selben Abend nach Hause zurückzukehren.
Durch die konsequente Einführung der Deutschen Volksliste und bis Frühjahr 1942 vollzogene Einteilung der Bevölkerung verschärfte sich die Versorgungslage noch weiter, weil die Stefaniaks zu der Minderheit der Einwohner gehörten, die in keiner Gruppe der Deutschen Volksliste erfasst worden war, sondern als Polen nur einen Anspruch auf minimale Lebensmittelrationen und Produkte schlechterer Qualität hatten. Die Kinder versuchten nach Kräften, der Mutter zu helfen. Eugeniusz’ älteste Schwestern, die 18-jährige Teresa und die 12-jährige Danuta, mussten Zwangsarbeit in der Kunsthonigfabrik im rund 20 km entfernten Unislaw leisten, und zwar einschließlich Fahrzeit 15 Stunden täglich. Dabei gelang es ihnen immer wieder, ein wenig Kunsthonig in ihrer Kleidung zu verstecken und mitzubringen.
Dennoch verschlechterte sich die körperliche Verfassung der Familienmitglieder zunehmend. Eugeniusz wurde von seiner Mutter beispielsweise zur Landarbeit aufs Dorf mitgenommen, um dort zumindest etwas Essen zu erhalten. Besonders kritisch war die Lage gegen Ende des Winters, als die schmalen Vorräte zu Neige gingen. Stefaniak erinnert sich daran, dass die Familie im Frühjahr 1942 drei Tage lang überhaupt nichts zu essen hatte.
Alle sechs Kinder erkrankten schließlich an Thyphus. Da ihnen die Aufnahme ins Kreiskrankenhaus verweigert wurde, wandte sich die Mutter an die im Kloster tätigen Barmherzigen Schwestern, die die Stefaniaks in ihrer Krankenstation zwei Monate lang behandelten und pflegten. Für die älteste Schwester Teresa kam jedoch jede Hilfe zu spät. Sie verstarb im Alter von 20 Jahren. Die anderen fünf Geschwister konnten geheilt werden.
Mit der Rückkehr nach Hause begann erneut der Kampf ums Überleben. Die Mutter bettelte mehrmals in der Woche in umliegenden Dörfern um Brot, die Kinder versuchten dasselbe in der Stadt. Bevorzugte Adresse war eine Wehrmachtskaserne, in deren Abfällen sie nach Essbarem und Brennmaterial suchten. Eugeniusz Stefaniak berichtet sowohl über deutsche Soldaten, die Mitleid mit den ausgehungerten Kindern hatten und ihnen Lebensmittel, Kleidung und Seife zusteckten, aber auch über Wachen, die nicht davor zurückschreckten, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen, sobald sie die in den Abfällen der Kaserne wühlenden Stefaniaks bemerkten. Die Suche in Mülltonnen erstreckte sich auch auf Restaurants und einfache Häuser in der Stadt. Stefaniak ist sich sicher, dass er ohne diese Art der Nahrungsbeschaffung die Okkupation nicht überlebt hätte.
In den wenigen freien Minuten versuchten sich die Familienmitglieder, sich gegenseitig beizustehen und aufzumuntern. Die Mutter, eine einfache Frau ohne Schulbildung, gab ihr erstaunlich umfangreiches Wissen über die polnische Geschichte und Nationalhelden an ihre Kinder weiter und war, sicherlich von ihrem tiefem Glauben gestärkt, überzeugt davon, dass Hitler-Deutschland den Krieg verlieren und Chełmno eines Tages wieder frei sein wird.
Während sich ab Ende 1942 das Verhältnis auch zu angestammten polnischen Einwohnern wieder besserte, bekamen nun auch Eugeniusz und sein Bruder Ferdynand die Härte des Besatzungsregimes nicht nur in Form mangelnder Versorgung persönlich zu spüren. Der ältere Bruder musste zunächst bei einem deutschen Landwirt Zwangsarbeit leisten, wurde geschlagen, später als „Ersatz“ für den Bauernsohn zum Reichsarbeitsdienst und schließlich sogar nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zur Wehrmacht eingezogen. Nach mehrmonatigem (unfreiwilligem) Dienst desertierte Ferdynand Stefaniak schließlich an der Westfront und beendete den Zweiten Weltkrieg nach einer Zwischenstation in England als Soldat der auf Seiten der Alliierten kämpfenden Polnischen Armee.
Als Eugeniusz Stefaniak 14 Jahre alt wurde, erhielt auch er als Pole automatisch den Status eines Zwangsarbeiters und wurde sog. Hilfsarbeiter im Obst- und Gemüsegeschäft des protestantischen Kaufmanns Wincenty Szalwicki, der trotz seines polnisch klingenden Namens nach eigenem Bekenntnis Deutscher war und in die II. Gruppe der Deutschen Volksliste aufgenommen wurde. Stefaniak wurde vom Geschäftsinhaber und seiner Frau grundsätzlich gut behandelt, auch wenn sie ihre privilegierte Position durch antipolnische Aussagen betonten. Er erhielt einen sehr geringen Lohn, hatte aber die Gelegenheit, unter Mithilfe eines Freundes ab und an Gemüse und Obst zu entwenden und so die Versorgungsprobleme der Familie zu lindern. Bezeichnend für seinen rechtlichen Status war, dass er nicht sozialversichert war und im Falle einer Erkrankung trotz schwerer Arbeit nicht auf ärztliche Hilfe zählen konnte.
Den Erlebnissen Stefaniaks während der letzten Kriegs- und Besatzungsmonate und der ersten Zeit nach der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee ist ein gesonderter Artikel gewidmet.